Besuch ehemaliger jüdischer Bürgerinnen und Bürger anlässlich des Pogromnachtgedenkens 2023

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Oberbürgermeister Hanno Benz bei der Gedenkveranstaltung in der Neuen Synagoge © Ulrike Schüttler

Anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und die Eröffnung der Neuen Synagoge am 9. November 1988 gastierten auf Einladung von Oberbürgermeister Hanno Benz vom 8. bis 12. November 34 ehemalige jüdische Darmstädterinnen und Darmstädter sowie deren Nachkommen aus den USA, Israel, England, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland in Darmstadt. Das Programm für die Gäste wurde von der Wissenschaftsstadt Darmstadt, der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, dem Arbeitskreis Stolpersteine und der Darmstädter Geschichtswerkstatt erstellt.

Dazu Oberbürgermeister Benz: „Den Besuch der ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger schätzen wir als große Geste der Versöhnung. Für dieses Zeichen der Versöhnung sind wir sehr dankbar. Unser Ziel war es, unseren Gästen das Gefühl zu vermitteln, dass sie in Darmstadt immer willkommen sind und hier ein Zuhause haben. Unser gemeinsames Gedenken sendet ein starkes Signal über Darmstadts Grenzen hinaus. Dass ehemalige jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger mit den Nachkommen der Tätergeneration zusammenstehen, ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. Ich danke allen Beteiligten, die sich für unsere städtische Erinnerungskultur eingesetzt haben und einsetzen.“

Die Wissenschaftsstadt Darmstadt lädt alle fünf Jahre ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger ein. Um die Verbindung aufrechtzuerhalten, wurden dieses Jahr erstmals auch deren Kinder und Enkel eingeladen. Während des Aufenthalts trafen Personen aus sechs Ländern und unterschiedlichen Alters (zwischen 13 und 85 Jahren) aufeinander, die aufgrund ihrer Geschichte und Beziehung zu Darmstadt eng miteinander verbunden sind. Die meisten von ihnen kannten Darmstadt bereits, da sie entweder zu Stolpersteinverlegungen oder bei früheren Gedenkveranstaltungen dabei waren. Insbesondere die jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren erstmals in Darmstadt. Sie alle bedankten sich für die Möglichkeit, in die frühere Heimatstadt ihrer Vorfahren zu kommen und den Gedenkfeiern beizuwohnen. Peter Ranis, der als Kind mit seiner Familie in die USA geflohen war und der mit seiner Frau, seinem Neffen und zwei Enkeln teilnahm, erklärte: „Wir sind sehr beeindruckt, mit wie viel Engagement dieser Besuch geplant wurde. Darmstadt und diese Veranstaltung sind ein besonderes Beispiel dafür, wie Erinnerungskultur lebendig gestaltet werden kann.“

Im Mittelpunkt des Programms stand die Gedenkveranstaltung in der Neuen Synagoge am 9. November mit einem anschließenden Abendessen im Caritas-Zentrum, das von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit organisiert wurde. Die Gäste zeigten sich berührt von den Reden des Oberbürgermeisters Benz und des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, Daniel Neumann. Letzterer brachte die anhaltende Ausgrenzung und Anfeindung von Jüdinnen und Juden auch 85 Jahre nach der Reichspogromnacht zum Ausdruck: „Die Synagoge in Berlin, auf die ein Brandanschlag verübt wurde, ist kein Außenposten Israels. Die Menschen, deren Wohnungen mit Davidsternen markiert wurden, sind keine israelischen Hardliner. Die Kinder, die in Schulen Ausgrenzung, Beleidigungen und Angriffe erfahren, sind keine israelischen Militärangehörigen. Die Fußballer, die für den Sportverein Makkabi auflaufen, sind keine politische Speerspitze, sondern treten für ein friedliches Miteinander unabhängig von Herkunft, Nationalität oder Religion ein. Und doch werden sie alle zum Ziel, werden beleidigt, eingeschüchtert und angegriffen. Und zwar aus dem einzigen Grund, dass sie Juden sind!“

In seiner Rede drückte Oberbürgermeister Benz seine Dankbarkeit für die lebendige jüdische Gemeinde aus, die heute wieder in Darmstadt besteht und welche die Stadt keinesfalls als selbstverständlich annehme. Gleichzeitig verurteilte er jegliche Form von Antisemitismus: „Der Angriff der Hamas hat nicht nur die Sicherheit Israels ins Wanken gebracht, sondern auch in unserer Gesellschaft menschenfeindliche Ansichten und Verhaltensweisen offengelegt, die wir schon überwunden geglaubt hatten. Daher müssen wir beständig und konsequent gegen Antisemitismus vorgehen. Dies muss unsere Lehre aus den antisemitischen Demonstrationen auch auf deutschen Straßen sein: Unsere pädagogische Arbeit für eine offene Gesellschaft darf keine blinden Flecke in Bezug auf jüdisches Leben zulassen. Antisemitische Haltungen sind inakzeptabel und werden von uns nicht toleriert.“

Damit betonte Oberbürgermeister Benz die Bedeutung, die der Bildungsarbeit zukommt. Vor diesem Hintergrund waren die Gäste eingeladen, an Zeitzeugengesprächen bzw. im Falle der Nachkommen an „Zweitzeugengesprächen“ in Darmstädter Schulen teilzunehmen, die von der Darmstädter Geschichtswerkstatt organisiert wurden. Insgesamt beteiligten sich 13 Klassen an fünf Schulen: die Viktoriaschule, die Martin-Behaim-Schule, die Justus-Liebig-Schule, die Eleonorenschule und die Bertolt-Brecht-Schule. An einem der Gespräche in der Brecht-Schule nahm Oberbürgermeister Benz teil, der wie die jüdischen Gäste das große Interesse und die tiefgehenden Fragen der Schülerinnen und Schüler lobte. Alice Scherwin, deren Mutter in Darmstadt geboren wurde, betonte: „Die Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern waren in meinen Augen der wichtigste Bestandteil unseres Besuchs. Die jungen Menschen sind die Zukunft und es ist unsere Aufgabe, ihnen unsere Geschichten und unsere Erinnerung mitzugeben, damit diese lebendig bleiben.“

Eine weitere Veranstaltung, bei der Darmstädter Schulklassen mit den Gästen ins Gespräch kamen, fand am 10. November im Programmkino Rex statt. Dort wurde der Film „Auf das Leben! Junges Jüdisches Leben in Deutschland“ gezeigt, der im Rahmen des Festjahres „100 Tage, 1700 Jahre! Jüdisches Leben in Darmstadt“ im Jahr 2021 gedreht und veröffentlicht wurde. Im Anschluss an die Vorführung fand ein offenes Gespräch mit dem Filmemacherpaar Barbara Struif und Christian Gropper, zwei Protagonistinnen des Films, Amelie Neumann und Liora Becher, sowie mit den geladenen Gästen und Darmstädter Schülerinnen und Schülern statt. Anwesend waren vier Klassen der Alice-Eleonoren-Schule und der Lichtenbergschule sowie Darmstädter Jugendliche, die sich im Bereich Erinnerungskultur engagieren. Die Diskussion drehte sich um aktuelle Fragen der jüdischen Identität und Israel, um Ausgrenzung, Vorurteile und das Zusammenleben in einer weltoffenen Gesellschaft. Dabei wurde die Hoffnung ausgedrückt, dass Darmstadt Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation auch weiterhin eine Heimat sein kann.

Ein weiterer Programmhöhepunkt war der Besuch des Heimspiels der „Lilien“ gegen den 1. FSV Mainz 05 im Merck-Stadion am Böllenfalltor. Viele Gäste nahmen auch das Angebot des Arbeitskreises Stolpersteine an, den Jüdischen Friedhof und den Erinnerungsort Liberale Synagoge zu besichtigen, und auch der Stadtrundgang der Geschichtswerkstatt zum Thema „Jüdisches Leben in Darmstadt“ stieß auf großes Interesse. Darüber hinaus hatten die Gäste jeden Tag die Möglichkeit, allein oder in Begleitung Orte, wie die Stolpersteine und frühere Wohnhäuser ihrer Familien zu besuchen. Dabei ergaben sich intensive Gespräche, wodurch der Besuch der Gäste nicht nur für sie, sondern für alle Beteiligten eine bewegende Erfahrung darstellte.