Das 19. Jahrhundert

Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und die Umwälzungen der napoleonischen Zeit ließen aus der kleinen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt das auf mehr als das doppelte seines ursprünglichen Territoriums angewachsene Großherzogtum Hessen mit der neuen Provinz Rheinhessen entstehen. Landgraf Ludwig X. nannte sich fortan „Großherzog Ludewig I. von Hessen und bei Rhein“. Darmstadt erhielt eine neue Bedeutung als Verwaltungssitz und Residenz eines beträchtlich vergrößerten souveränen Staates.

Für die Mitglieder der wachsenden Landesverwaltung und des Hofes setzte der Architekt Georg Moller eine groß angelegte Stadterweiterung ins Werk: in wenigen Jahrzehnten entstand eine neue Stadtanlage im Westen, die die alte Stadt an den Rand drängte und das Zentrum Darmstadts an den neuen Luisenplatz verlegte. Als Denkmal der ersten hessischen Verfassung erhebt sich hier das 1844 errichtete Ludwigsmonument.

Mit dem Tod Ludewigs I. setzte unter seinem schwachen Nachfolger Ludwig II. und dessen Staatsminister du Thil eine Phase der politischen Restauration ein. Bekanntestes Opfer der neuen Politik war der Darmstädter Arztsohn Georg Büchner. Die politischen Diskussionen und Agitationen, die wegen der scharfen Zensur und Überwachung in unverdächtigen Turn- und Gesangvereinen stattfanden, verschafften sich unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 in Forderungen nach Pressefreiheit, Volksbewaffnung und Strafrechtsreform Luft. Die revolutionären Ereignisse der kommenden zwei Jahre führten jedoch wie andernorts, so auch in Darmstadt, zu einer obrigkeitsstaatlichen Reaktion, die die neuen Freiheiten zum Teil wieder abschaffte.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrunderts stand in Darmstadt ganz im Zeichen einer stürmischen Industrialisierung mit der Gründung namhafter Fabriken wie Merck, Goebel und Schenck, die von weit reichenden Maßnahmen der Infrastruktur wie der Eröffnung mehrerer Eisenbahnlinien, der Einführung der neuen Energieformen Gas und Strom sowie einer zentralen Wasserversorgung begleitet wurden. Den wachsenden innerstädtischen Verkehrsproblemen begegnete man 1886 mit der Einrichtung der Dampfstraßenbahn, die das tägliche Einpendeln der Industriearbeiter aus den Vororten ermöglichte.

Ab 1897 wurde das steigende Verkehrsaufkommen in der Innenstadt durch die elektrische Straßenbahn bewältigt. Auch auf dem Bildungssektor trug man der Entwicklung Rechnung durch Gründung einer Höheren Gewerbeschule, die 1877 zur Technischen Hochschule erhoben wurde. Im Zuge der Industrialisierung ist ein sprunghafter Bevölkerungsanstieg zu verzeichnen. Von rund 32.500 Darmstädtern im Jahre 1861 über 56.500 (1890) stieg die Zahl der Einwohner auf fast 88.000 im Jahr 1907.

Umfangreiche städtische Bauplanungen waren die Folge. In wenigen Jahrzehnten entstanden neue Wohnviertel mit Mietwohnungen wie das Johannesviertel und das Martinsviertel, nach der Jahrhundertwende das überwiegend villenartig bebaute Paulusviertel im Südosten und die Gartenvorstadt am Hohlen Weg (heute Komponistenviertel). Leidtragende der Entwicklung waren die Bewohner der Altstadt, des alten Stadtkerns, der zum Wohnviertel der kleinen Handwerker und Tagelöhner wurde und gegen Ende des Jahrhunderts zum Ghetto oder sozialen Brennpunkt wurde.

Der letzte Darmstädter Großherzog Ernst Ludwig war ebenso wie sein Vorfahre Ludewig I. durch Neigung und Begabung mit den Künsten verbunden. In die ersten Jahre seiner Regierung fielen die repräsentativen Neubauten des Hessischen Landesmuseums und der Technischen Hochschule am Herrngarten. Die entscheidende Bedeutung Ernst Ludwigs aus heutiger Sicht liegt jedoch in der 1899 erfolgten Berufung von sieben Künstlern nach Darmstadt und die Gründung einer Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe.

Die Kunstförderung fand ihren öffentlichen Ausdruck in der 1901 eröffneten Ausstellung „Ein Dokument deutscher Kunst“. In dieser und in drei weiteren Ausstellungen 1904, 1908 und 1914 präsentierten die wechselnden Mitglieder der Künstlerkolonie Architektur und Kunsthandwerk für alle Bevölkerungsschichten. Die Formensprache des Jugendstils beeinflusste auch die Darmstädter Baumeister und Architekten. Ihre repräsentativen Bauten weisen häufig Jugendstilelemente auf: die Maschinenhalle der Technischen Universität Darmstadt von Georg Wickop, die Pauluskirche und der Hauptbahnhof von Friedrich Pützer, das Zentralbad von August Buxbaum.