San Antonio − Brauereien, Burritos und der Polarstern

Reihe. Die Krise, die vereint: Retrospektiver Blick in einige unserer Partnerstädte. Philina Wittke ist Leiterin des Verbindungsbüros der TU Darmstadt für Nordamerika. In diesem Bericht erzählt sie über neue Initiativen, die Bedeutung des Zuhörens und was die Göttin Athene, mit dem Home Office zu tun hat.

Dieser Bericht wurde im Mai erstellt und die Lage und Fallzahken bezüglich der Corona-Pandemie haben sich in der beschriebenen Stadt oder dem Land möglicherweise verändert. Daher ist der folgende Artikel nur als Momentaufnahme zu betrachten.

San Antonio ist wild und wunderbar, interessiert und inspirierend, lebendig und besinnlich. San Antonio duftet nach mexikanischer, asiatischer und amerikanischer Küche. San Antonio klingt nach Jazz, Tejano und Basketballfieber. San Antonio ist stolz auf seine Fahrrad- und Fußgängerwege, die am Riverwalk entlang 5 km in den Norden führen, wo sie am  Areal The Pearl enden.

The Pearl ist das Lieblingsziel meiner zahlreichen Sonntagsausflüge. In diesem Areal, das sich im Industrial Chic um eine ehemalige deutsche Brauerei windet, gibt es das beste Eis der Stadt, die besten Austern und wahrscheinlich auch den besten Wein. Vor knapp einhundert Jahren hatte Emma Koehler, die Ehefrau des Braumeisters, während der Prohibition sichergestellt, dass keine einzige Person entlassen werden musste. Sie hat die Produktion so umgestellt, dass eine Zeitlang Seife und Brause hergestellt werden konnte. Am 15. September 1933 verließen eine Minute nach Mitternacht Lastwagen voller Bier den Hof. Deutsche Präzision, so möchte ich meinen. Wie sollte es anders sein.

„Von Verzweiflung, Panik, Resignation ist hier wenig zu spüren“

Normalerweise tummeln sich im urbanen Grün rund um The Pearl an sonnigen Tagen Alt und Jung, Familien und Paare, Studierende, Jogger, Freunde, Touristen und Hunde. Sie teilen sich einen Tisch, den Spielplatz oder den Fotospot vor dem Springbrunnen, genießen den italienischen Kaffee, die französischen Macaron, einen Teller Tacos oder eine Schale Ramen. Auf den Bänken, Stühlen und Mauervorsprüngen scheint es endlosen Platz zu geben, endlose Anlässe für Gespräche und endlose Ratlosigkeit, wie all die nassen Kinder aus den Wasserfontänen wieder trocken nach Hause kommen sollen. Das ist San Antonio: innovativ, kreativ und gesellig, voller Leben und Lachen, voller Sonnenschirme und Fotospots, voller Geschichten, die man kennt und die man nicht für möglich hält. 

Doch in diesen Tagen ist niemand bei The Pearl. Der Lieferservice des regionalen Wochenmarktes hat ein Onlineportal eingerichtet, die Restaurants haben nur „Zum Mitnehmen“ geöffnet und selbst die Sonne leuchtet eher zögerlich auf den Platz, als wäre sie nicht sicher, ob sie sich in der Zeit vertan habe. Der Weg in den Norden ist einsam, weil Familien, Jogger und Fahrradfahrer ihre Blicke senken und einen Bogen umeinander machen. Der Riverwalk ist gezeichnet von Kinderhänden, im wahrsten Sinne des Wortes, da die Blumen im Teermuster mit Kreide ausgemalt sind, an normalen Tagen undenkbar. Dazu wäre viel zu viel Verkehr.

Und dennoch: Von Verzweiflung, Panik, Resignation ist hier wenig zu spüren. Jeden Tag gibt es eine neue Idee, eine neue App und eine neue Initiative, um die Krise gemeinsam zu bewältigen. Einige Restaurants verkaufen ihre Lebensmittel direkt aus den Kühlhäusern, um das Essen nicht wegwerfen zu müssen. Brauereien unterzeichnen Petitionen, um ihr Bier selbst ausliefern zu dürfen. Der lokale Supermarkt schafft es regelmäßig in die nationalen Nachrichten, weil die Schutzmaßnahmen und die Lieferketten beispielhaft sind.

„Wenn man einen Platz in der Welt hat, dann macht einem die Welt in all ihren Veränderungen keine Angst.“

Wenn ich heute aus meinem Fenster im King William Viertel sehe, kneife ich die Augen ein wenig zusammen. Die Sonne scheint auf die Palmen und Grünanlagen meiner Nachbarn und mir leuchtet eine historische Leichtigkeit entgegen, die von deutschen Aussiedlern, spanischen Mönchen, texanischen Aufständen und amerikanischen Revolutionen erzählt. „Wir waren schon immer hier“, sagen die Menschen. „Nur die Grenzen, die haben ein paar Mal gewechselt.“ Das ist das texanische „Wir schaffen das“.

Aktuell ändern sich zwar nicht die nationalen Grenzen – auch wenn wir uns da noch nicht so sicher sein können – aktuell ändern sich die Grenzen unserer Wahrnehmung, unseres Selbstverständnisses, unseres Konsums, unserer Freundschaften, Freiheiten und Prioritäten – kurz: der Welt, wie wir sie kennen oder zu kennen glaubten. Aber wenn man einen Platz in der Welt hat, dann macht einem die Welt in all ihren Veränderungen keine Angst. Dann ist sie stattdessen ein Marktplatz für Informationen und Ideen, zum Teilen, Diskutieren und Lernen.

San Antonio ist mit einer Selbstverständlichkeit multilingual, multinational und multikulturell, dass kaum eine nationale Information oder eine globale Nachricht verkannt bleibt. „In Israel…, in Puerto Rico…, in Irland…, in der Ukraine machen wir das so“ – so beginnen viele Sätze in meinem neuen Team im Global Initiatives Office an der University of Texas in San Antonio (UTSA). Und auch wenn ich bei meinem ersten Burrito Breakfast im Teamraum über die Maße mit den Herausforderungen der ortsangemessenen Esstechnik beschäftigt war, haben mich die kurzen Biografien meiner neuen Kolleginnen und Kollegen nachhaltig fasziniert.

„Wir hören zu: Globales Forschen, Lehren und Lernen muss einen Platz in der Welt und daher auch ein Ohr in der Welt haben.“

Ich bin am 20. Januar in den USA gelandet, einen Tag nachdem in Washington State der erste COVID-19 Patient diagnostiziert wurde. Von Pandemie war an diesen Tagen noch nicht die Rede und der Präsident versicherte erwartungsgemäß, er habe „alles unter Kontrolle“ (CNBC-Interview, 22. Januar 2020).  Inwiefern das auch drei Monate später noch stimmt, mag nur er selbst entscheiden.

Washington ist hier in San Antonio weit weg, zumindest weiter weg als der Rest der Welt. Das Sommersemester ist inzwischen komplett auf Onlinekurse umgestellt. Das bedeutet Fernlehre bis mindestens Mitte August. Doch das Global Initiatives Office muss auch jetzt schon wissen, was danach passiert: Erhalten die internationalen Studierenden rechtzeitig vor Semesterbeginn ihr Visum? Nehmen die Fluggesellschaften rechtzeitig den Flugverkehr wieder auf? Werden Reisebeschränkungen gelockert, sodass internationalen Wissenschaftler*innen wieder einreisen können? Schicken (amerikanische) Eltern ihre Kinder bereits im Herbst wieder auf den Mikrocampus der UTSA nach Italien?

Das alles wissen wir nicht. Und was machen wir, wenn wir das nicht wissen? Wir hören zu: Globales Forschen, Lehren und Lernen muss einen Platz in der Welt und daher auch ein Ohr in der Welt haben. Also teile ich in den Team Meetings, relevante Nachrichten aus Deutschland und der EU sowie Ideen und Erfahrungen von Kolleg*innen aus meinem deutsch-amerikanischen Netz. Im Gegenzug erfahre ich, was in den kolumbianischen, israelischen und chinesischen Hochschulsystemen sowie an anderen Universitäten in Texas diskutiert wird. Auf diese Weise fungieren die International Offices in einem zuverlässigen globalen Netzwerk als Seismographen der nationalen und regionalen Hochschullandschaften, wovon die einzelnen Universitäten sowie die Städte und Regionen profitieren.

Und so sehr mein Kopf auch in der Welt ist, so sehr ist mein Körper in denkwürdigem Minimalismus beschränkt. Seit vier Wochen ist mein Weg zur Arbeit genau der Schritt, der das Schlafzimmer vom Wohn- und Arbeitszimmer trennt. Hier wartet meine To-Do-Liste auf mich, eine Magnettafel mit Notizen, aktuell noch ein Schokoladenosterhase und natürlich Athene, die Göttin der Weisheit, der Strategie, des Kampfes und der Kunst, die das Logo der TU Darmstadt ziert. Passenderweise ist sie auch die Schutzheilige der Paläste; und ich sollte mir bewusst sein, dass ich in einem Palast lebe, wenn meine eigenen vier Wände Sicherheit bieten und alles, was ich ertragen muss, heute HomeOffice heißt.

„In Zeiten der Pandemie ist das meiner Meinung nach die wirkungsvollste Medizin: Geschichten zu teilen“

Seit vier Wochen bin ich nicht mehr Bus gefahren und ich vermisse das, weil es mir das Gefühl gibt, Teil von einer Stadt sein und nicht nur von einer Universitätsblase. Ich frage mich, wie es den Menschen geht, die mit mir die Sitzbänke teilen, die rücksichtslos in meine morgendliche Gedankenverlorenheit hineinquatschen und mir ungefragt von ihren Kindern, Wochenenden und Lieblingsbands erzählen. Diese Frage muss ich noch eine Weile für mich behalten.

Die Team Meetings des Global Initiatives Offices finden inzwischen Donnerstagnachmittag statt, virtuell natürlich und ohne Burritos. Wir sprechen über Netflixserien, Backrezepte und Beziehungstipps, ganz normale Flurgespräche also. Viele unserer Sätze beginnen noch immer mit „Bei uns…“ und enden mit Geschichten aus unseren Nachbarschaften, unseren Heimatländern und temporären Aufenthaltsorten unserer Freunde.

In Zeiten der Pandemie – wie auch sonst – ist das meiner Meinung nach die wirkungsvollste Medizin: Geschichten zu teilen, in denen Menschen überall auf der Welt dieselben Fragen stellen und nach denselben Antworten suchen, um zu verstehen, dass wir alle im sprichwörtlich selben Boot (oder Bus?) sitzen und dass wir nur in einer neuen Normalität ankommen können, wenn wir die gemeinsame Reise am Polarstern der Menschlichkeit ausrichten.