Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir sind heute anlässlich des Volkstrauertages hier auf dem Waldfriedhof zusammengekommen.
Es ist ein Tag der Trauer, an dem wir nicht nur der vielen Toten der großen europäischen Kriege der Vergangenheit gedenken, sondern auch der Opfer und Toten der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit. Der Volkstrauertag wurde 1919 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs vorgeschlagen. Die erschütternde Bilanz des Ersten Weltkrieges lautete: zehn Millionen Tote und über 21 Millionen Kriegsbeschädigte. Allein in Deutschland blieb eine halbe Millionen Kriegswitwen zurück.
In unserer Stadt betrauerten wir 2.121 Darmstädter Weltkriegstote. Allein hier auf dem Waldfriedhof sind 397 deutsche sowie 762 russische, englische, italienische und amerikanische Soldaten begraben, die ihren Verwundungen in Darmstädter Gefangenschaft erlagen.Auch 240 französische Tote sind hier bestattet.
Die Hinterbliebenen suchten nach aufrichtiger Anteilnahme für ihren Schmerz, nach einem Zeichen der Solidarität auch von denjenigen, die keinen Verlust zu beklagen hatten. So entstand 1919 in Deutschland die Idee des Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge für einen Volkstrauertag. Ziel des Volksbundes war es damals: alle Deutschen im Gedenken zusammenzubringen. Die Unterschiede der Parteizugehörigkeit, der Religion und der sozialen Stellung sollten nicht mehr zählen. iele Gruppen unterstützen den Volksbund dabei, von den großen Glaubensgemeinschaften bis zum jüdischen Frauenbund.
Der Erste Weltkrieg endete nach vier schrecklichen Jahren im Jahr 1918. Ehefrauen hatten ihre Männer verloren, Mütter ihre Söhne, Kinder ihre Väter und das für ein politisches System, das nicht mehr bestand. Nach dem Großen Krieg wachten die Menschen in einer neuen Welt auf. Er führte zu zahlreichen und weitreichenden sozialen Umbrüchen, die die europäischen Gesellschaften nachhaltig veränderten, darunter die Russische Revolution und den Sturz monarchistischer Regierungen.
Der Krieg destabilisierte bestehende Klassenstrukturen. Diese sozialen Umbrüche trugen dazu bei, die gesellschaftlichen Normen und Werte in vielen Ländern neu zu definieren. Der Volkstrauertag war immer auch ein Tag der Mahnung zu Versöhnung und Verständigung.
Nach dem Ersten Weltkrieg mit all seinen politischen und sozialen Folgen und menschlichen Tragödien gab es die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden in Europa. Die Menschen sehnten sich nach Stabilität und Sicherheit. Viele Menschen wollten nie wieder Krieg.
Der Versailler Vertrag von 1919 sollte nicht nur den Frieden sichern, sondern auch die Grundlage für eine neue Weltordnung schaffen.
Auch die Gründung des Völkerbundes war ein weiterer Versuch, Konflikte durch Diplomatie und Zusammenarbeit zu lösen, um zukünftige Kriege zu verhindern. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Bedauerlicherweise führte der Erste Weltkrieg zu einer Ära der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Instabilität, die immer wieder zu exzessiver Gewalt führte und schließlich zum Aufstieg totalitärer Diktaturen führte. Eine Entwicklung, die im Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gipfelte. Wir, die Deutschen, überfielen unsere europäischen Nachbarn und stürzten den Kontinent in Krieg und Zerstörung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen europäische Städte in Trümmern, mit fast 60 Millionen Toten Soldaten und Zivilisten und über 35 Millionen Kriegsversehrten. Während des Zweiten Weltkriegs wurden brutale Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Menschen wurden aufgrund ihrer Herkunft, Religion, politischen Überzeugungen, körperlichen Merkmale oder sexuellen Orientierung grausam getötet.
Über 6 Millionen Juden und Jüdinnen sowie mehr als 300.000 Sinti und Roma fielen den Nazis zum Opfer. Aus der historischen Distanz ist es leicht zu urteilen, dass die NS-Diktatur hätte verhindert werden können, wenn sich ihr mehr Menschen widersetzt hätten. Wenn mehr Menschen Zivilcourage gezeigt hätten, trotz Repressalien, beruflichen Nachteilen und der Gefahr für Leib und Leben.
Es ist richtig, an Tagen wie diesem, wenn wir an den Gräbern der Opfer und Gefallenen verweilen, sollten wir uns vor pauschalen Schuldzuweisungen hüten. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. betont dies in seinem Leitbild zu Recht: „Viele Soldaten kämpften im Bewusstsein, ihre nationale Pflicht zu erfüllen. Viele Deutsche machten sich schuldig. Einige konnten sich entziehen. Wenige leisteten Widerstand.“
In diesem Jahr haben wir auch des 80. Todestag Wilhelm Leuschners gedacht. Er steht stellvertretend für jene, die auf vielfältige Weise Widerstand gegen das totalitäre Regime leisteten und dies letztendlich mit ihrem Leben bezahlten. Er steht auch für eine politische Persönlichkeit, die den Niedergang der Weimarer Republik erleben musste. Wilhelm Leuschner vermochte es, eine Widerstandsgruppe zu formen, die aus Vertretern der Gewerkschaften, des bürgerlichen, nationalkonservativen und militärisch-adligen Milieus bestand, um sich gegen das NS-Regime zu erheben. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern überwand er soziale, politische und kulturelle Barrieren, um die Diktatur zu stürzen und eine Gesellschaft auf dem Fundament sozialer Demokratie zu errichten. Einen Tag vor seinem brutalen Tod durch die Hand des Nazi-Regimes schrieb Wilhelm Leuschner an seinen Sohn: “Morgen werde ich gehängt. Haltet zusammen. ”Dieser Appell kann auch als ein Plädoyer für die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit bei der politischen Gestaltung interpretiert werden.
Für Wilhelm Leuschner bedeutete Freiheit nicht nur die Abwesenheit von Einschränkungen, sondern auch die Verpflichtung, die man der Gesellschaft gegenüber trägt. Er handelte stets in dem Bewusstsein, dass Freiheit und Verantwortung untrennbar miteinander verbunden sind, um sowohl die individuellen Rechte als auch das kollektive Wohl zu wahren. Er legte damit wichtige Grundlagen für eine Nachkriegsordnung.
Nach dem Kriegsende 1945 stand die Welt, stand Europa, stand Deutschland erneut vor der Frage: Wie können wir alte Konflikte und Feindschaften überwinden? Es war unter anderem möglich, weil Deutschland einen Weg gefunden hat, mit persönlicher und kollektiver Verantwortung in Zeiten von Diktatur und Krieg umzugehen. Durch das konsequente Auseinandersetzen mit der Vergangenheit, das klare Benennen von Fehlern und das Übernehmen von Verantwortung für die historische Wahrheit. Die Erinnerung und die Lehren an die zwölf Jahre der menschenverachtenden nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland ist ein fester Bestandteil unserer Erinnerungskultur und unserer Staatsräson.
Dieser Zusammenhang wird besonders am Volkstrauertag deutlich. Heute sind wir, sind Sie und ich, in der Verantwortung in diesem Sinne zu handeln. Dies schulden wir nicht nur den Verstorbenen, sondern auch unseren Kindern. Der derzeitige Zustand der Gesellschaft ob in Deutschland, Europa oder den USA zeigt deutlich, wir stehen an einem Scheideweg.
Die Grundlagen unserer parlamentarischen Demokratie wirken plötzlich nicht mehr so stabil, wie wir geglaubt haben. Extreme Parteien und extremistische Strömungen innerhalb der Gesellschaft befinden sich im Aufwind, populistische und autoritäre Regierungen auf der ganzen Welt nehmen zu. Es ist erschreckend, dass demokratische Prozesse und staatliche Institutionen zunehmend infrage gestellt werden. Diese Entwicklungen lenken unseren Fokus erneut auf die essentielle Rolle von Mut und Zivilcourage bei der Gestaltung der Politik. Unser freiheitlicher Verfassungsstaat ist kein Selbstläufer, sondern ist auf jeden von uns angewiesen.
Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie, das lehrt uns das Scheitern der Weimarer Republik. Ohne Verantwortung und Engagement der Bürger bleibt Freiheit nicht bestehen. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit müssen wir schätzen, bevor sie bedroht oder gar verloren sind.I n Deutschland verzeichnen wir Jahr für Jahr einen Anstieg extremistischer, rassistischer und antisemitischer Straftaten.
Anlässlich des 9. Novembers 2024 hat uns Daniel Neumann, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, deutlich wissen lassen, dass Jüdinnen und Juden sich im Angesicht des wachsenden Antisemitismus nicht mehr sicher in unserem Land fühlen. Dagegen müssen wir uns mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats zur Wehr setzen. Denn eine Atmosphäre des Misstrauens und der Spaltung erschwert die Suche nach gemeinsamen Lösungen für die Herausforderungen des Landes. In unserem demokratischen Diskurs und im gesellschaftlichen Miteinander ist es von großer Bedeutung, offen für verschiedene Perspektiven zu sein und den Respekt vor anderen Meinungen und Werten zu wahren.
Jahrhunderte lang war Europa ein kriegerischer Kontinent und Ausgangspunkt erbarmungsloser Konflikte. Wir haben es geschafft den europäischen Gedanken zu realisieren. Nämlich den, dass kein Krieg mehr zwischen Europäern möglich ist, weil unsere Gemeinsamkeiten stärker sind als unsere Unterschiede. Das Ergebnis ist über 70 Jahre Frieden in Europa. Es hat sich gezeigt, dass gerade die Vielseitigkeit Europas und seiner Nationalstaaten nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke ist. Wir sind unterschiedlich und ergänzen uns doch.
Am Ende müssen wir zusammenhalten, wenn wir in der Welt etwas bewegen wollen. Einzeln spielt Europa im Konzert der Mächte eine immer geringere Rolle. Nur zusammen, werden wir gehört. Die europäische Einigung als Friedensprozess hat uns eine Phase von Wohlstand und kultureller Blüte beschert. Um diesen Zusammenhalt gegenüber denjenigen zu bewahren, die uns spalten wollen, brauchen wir engagierte Demokratinnen und Demokraten, die für Freiheit und Recht einstehen.
Die Demokratie muss aber auch wehrhaft sein. Sie muss in der Lage sein ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Wieder einmal ist die furchtbare Erkenntnis: wer Frieden will, der muss auch für den Krieg gerüstet sein. Dies zeigt nicht zuletzt, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine oder der brutale Angriff der Hamas auf Israel. Deshalb gedenken wir heute auch den Männern und Frauen der Bundeswehr, die im Dienst für Deutschland und seine Bewohner im Einsatz sind und ihre Leben riskieren. Wir denken vor allem heute auch an die Familien und die Angehörigen der gefallenen Bundeswehrsoldaten.
Wir alle sind ihnen zu Dank verpflichtet und ihnen allen sind wir es schuldig, dass wir nie mehr jenen Weg gehen, der uns bereits in der Vergangenheit ins Verderben führte. Deshalb müssen wir uns daran erinnern, wie Darmstadt in der sog. Brandnacht vor 80. Jahren zerstört wurde. Dabei müssen wir nicht nur an die Folgen jener Nacht mit nahezu 12.000 Toten erinnern. Wenn wir verhindern wollen, dass sich so etwas wiederholt, müssen wir die Ursachen verstehen und dürfen nie vergessen, wie es dazu kam.
Unser Auftrag ist es: nicht nur die Geschichte, sondern auch die Lehren dieser Zeit weiterzugeben. Dabei wird entscheidend sein, nicht nur die Fakten zu vermitteln, sondern auch die Emotionen und menschlichen Geschichten hinter den Ereignissen zu verstehen. Dies wird nicht leicht, denn wir werden dies zukünftig ohne die Mitwirkung von Zeitzeugen tun müssen. Also ohne diejenigen, die den Schrecken erlebt haben und persönlich betroffen waren. Nachfolgende Generationen stehen vor der Aufgabe, sich mit einer Geschichte auseinanderzusetzen, die sie selbst nicht erlebt haben, und daraus Lehren für die eigene Zukunft zu ziehen. Dies ist Aufgabe der Politik, der demokratischen Institutionen und der Zivilgesellschaft.
Der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge betreut heute die Gräber von etwa 2,7 Millionen Kriegstoten auf 832 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten. Sein Leitwort ist: Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden. Ich danke dem Volksbund für seinen unermüdlichen Einsatz für den Frieden und das Erinnern in diesem Land. Ich danke den vielen Arbeitskreisen, Vertretern von Kirchen für die Zeit und das Engagement, dass Sie immer wieder in die Erinnerungsarbeit investieren. Ich danke den Angehörigen der Bundeswehr, der Feuerwehr, der Polizei, die uns an diesem wichtigen Gedenken begleiten und unterstützen.
Diese Zusammenarbeit im Zeichen der Versöhnung und des Friedens ist ein starkes Zeichen, nicht nur an dem heutigen Volkstrauertag, sondern darüber hinaus.
Vielen Dank!