80. Jahrestag des Attentats und Umsturzversuchs am 20. Juli 1944

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Oberbürgermeister Benz würdigt den Politiker, Historiker, Parteienforscher, Widerständler und ersten Darmstädter Regierungspräsidenten Ludwig Bergsträsser

Prof. Dr. Ludwig Bergsträsser © Wissenschaftsstadt Darmstadt

Anlässlich des 80. Jahrestags des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 und des damit einhergehenden Umsturzversuchs hat Oberbürgermeister Hanno Benz die Rolle des Darmstädter Politikers, Historikers, Parteienforschers und ersten Darmstädter Regierungspräsidenten nach 1945, Professor Dr. Ludwig Bergsträsser (1883-1960), gewürdigt.

„Ludwig Bergsträsser gehörte zu den mutigen Widerständlern um Wilhelm Leuschner und war nach 1945 ein Verfechter der liberalen, wehrhaften Demokratie und Demokratiebildung. Bergsträsser, der 1948/49 das Grundgesetz maßgeblich mitgeprägt hatte, lebte nach der Devise ‚Wenn Recht zu Unrecht, wird Widerstand zur Pflicht‘. Er gehörte zu denjenigen, die wussten, dass man sich für Demokratie, Menschenwürde und Freiheit ununterbrochen engagieren muss. Insofern ist Bergsträssers Leben und Wirken ein Vorbild für Weitblick, Zivilcourage und Anstand“, so Benz.

Ludwig Bergsträsser wurde am 23. Februar 1883 im elsässischen Altkirch geboren; er starb am 23. März 1960 in Darmstadt. Als Politiker engagierte er sich erst in der Deutschen Demokratischen Partei, später in der SPD. Von 1922 bis 1933 war er im Reichsarchiv Berlin tätig, zuletzt als Leiter von dessen Außenstelle in Frankfurt am Main. Bereits 1921 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Die Geschichte der politischen Parteien in Deutschland“, das immer noch als Standardwerk gilt. Seither gilt er als Nestor der Parteiengeschichtsforschung. Wissenschaftlich widmete sich Bergsträsser seit den 1920er Jahren der Geschichte der Revolution von 1848 und der Entstehung der politischen Parteien. Damit betrat er in der deutschen Geschichtsforschung des frühen 20. Jahrhunderts Neuland.

Während der NS-Zeit wurde Bergsträsser Berufsverbot erteilt und die Lehrerlaubnis an der Universität Frankfurt entzogen, was die Vernichtung von dessen beruflicher Existenzgrundlage bedeutete. Am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 war Bergsträsser als deren strategischer Vordenker beteiligt. Für Leuschner, den letzten demokratischen Innenminister des Volksstaats Hessen bis 1933, erarbeitete Bergsträsser 1942 und 1943 zwei wegweisende Denkschriften, die dem demokratischen Wiederaufbau und der bildungspolitischen Gestaltung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes gewidmet waren.

Leuschner und dessen Leute, darunter Darmstadts späterer Oberbürgermeister Ludwig Metzger und Käthe Kern, trafen sich auch in Bergsträssers Darmstädter Wohnung. Nach dem gescheiterten Stauffenberg-Attentat am 20. Juli 1944 entging Bergsträsser der Verhaftungswelle, auch weil Leuschner, trotz schwerer Folter seinen Namen nicht preisgab.

Vom 14. April 1945 bis zum 12. Oktober 1945 war Bergsträsser auf Vermittlung des ersten Darmstädter Nachkriegsoberbürgermeisters Ludwig Metzger erster Regierungschef der Provinz Starkenburg, dann auch Oberhessens und kurzzeitig der „deutschen Regierung des Landes Hessen“, d.h. der rechtsrheinischen Territorien des ehemaligen Volksstaats Hessen. Die von ihm geführte Regierung tagte anfangs im unzerstörten, aber kahlen Ostflügel des Hessischen Landesmuseums, weil das Kollegiengebäude noch in Trümmern lag. Bergsträssers Hoffnung, Ministerpräsident von ganz Hessen zu werden, erfüllte sich nicht. Stattdessen fungierte er von Oktober 1945 bis 1948 als erster Darmstädter Regierungspräsident. Ab 1945 arbeitete Bergsträsser zudem als Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt, ab 1950 an der Universität Bonn. Von 1946 bis 1951 hatte er einen Lehrauftrag für Staatsbürgerkunde an der TH Darmstadt.

„Bergsträsser war einer der bedeutendsten Vertreter des Linksliberalismus in Deutschland“, so Benz. Er hatte wesentlichen Anteil an der Hessischen Verfassung nach 1945 und war ein einflussreiches Mitglied des Parlamentarischen Rats von 1948/49, der das Grundgesetz und die neunzehn Grundrechtsartikel formulierte. Er gehörte dem Geschäftsordnungsausschuss und dem Ausschuss für Grundsatzfragen an. Bei der Beratung der Grundrechte diente ihm die Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 als Vorbild.

„Nach 1945 war Ludwig Bergsträsser nicht nur einer der maßgeblichen Väter des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung, sondern er wirkte auch wesentlich daran mit, in der Bundesrepublik die liberale, wehrhafte Demokratie und die politische Demokratiebildung an Schulen, Universitäten und Volkshochschulen zu etablieren“, so Benz.

Bergsträsser setzte sich energisch für Volks- und Demokratiebildung an den Volkshochschulen ein und galt bundesweit als Vorkämpfer des „Staatsbürgerlichen Unterrichts“, der später den Namen Gemeinschafts- oder Sozialkunde erhielt. Er gilt zudem als einer der prominenten Geburtshelfer des Studienfachs Politikwissenschaft in der frühen Bundesrepublik. „Sein Anliegen war es, die Demokratie dauerhaft in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Dieser Ansatz ist hochaktuell: In einer Zeit des wachsenden Rechtsextremismus und Antisemitismus ist politische Demokratiebildung an Schulen, Universitäten und Volkshochschulen unverzichtbar“, so Benz.

Bergsträsser, so Benz, habe das Toleranz-Paradox Karl Poppers verinnerlicht: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Daher, so Benz, sei es Bergsträssers Credo gewesen: „Politik ist Praxis, nicht Illusion“. Er sei zeitlebens der Überzeugung gewesen, dass man Demokratie nicht nur denken, sondern auch leben müsse – und dass die Demokratie hellwache, aktive Bürgerinnen und Bürger braucht, die sich am demokratischen Gemeinwesen beteiligen.

Seit 1950 war Bergsträsser Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er starb mit 77 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Friedhof. Zu Ehren Bergsträssers trägt der repräsentative Saal im ersten Stock des Regierungspräsidiums am Luisenplatz seinen Namen. Sein Nachlass lagert im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt.